Page 17 - weihnachtskurier_2023
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die zeitgeistige Empfindsamkeit und den damit verbunde- nen Freundschaftskult widerspiegeln.
Den grössten Einfluss auf Schinz und etliche seiner Studi- enkollegen am Carolinum übten die beiden Philologen Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) aus.
In den 1720er Jahren hatten die zwei Freunde eine litera- risch-kritische Zeitschrift in der Art moralischer Wo- chenschriften veröffentlicht, die zwar die Zensurbehör- den auf den Plan rief, aber auch jenseits eidgenössischer Grenzen auf beträchtliches Interesse stiess.18 Ihr 1740 ge- meinsam publiziertes Werk Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie adelte die Phantasie als schöpferisch-poetische Kraft und löste einen veritablen Literaturstreit aus. Mit ihrem schriftstellerischen, heraus- geberischen und übersetzerischen Schaffen verbreiteten sie das Gedankengut der französischen und englischen Aufklärung und begründeten als grosszügige Förderer junger Literaten den Ruf Zürichs als kulturelles Zentrum von europäischem Rang – ein «Athen an der Limmat».19 Am Carolinum wirkten die beiden prägend auf mehrere Generationen künftiger Pfarrer, Ratsherren und Magist- raten ein.
Hochachtung und Bewunderung, die der Student Schinz seinem Lehrer Bodmer entgegenbrachte, fussten nicht auf dem Interesse an schöner Literatur.20 Bodmer war ein be- geisterter Rousseau-Anhänger, sein idealisierender Blick auf das einfache, naturverbundene und tugendhafte Le- ben der Vorväter traf sich mit Schinz’ «Hang zum Landleben»21 und seiner asketischen Grundhaltung. Seit Vater Schinz 1762 verstorben war, hielt sich der Theolo- giestudent so oft wie möglich in Embrach auf, um seinen älteren Bruder in dessen Funktion als Gutsverwalter zu unterstützen. Interessanter als schöngeistiges Schrifttum waren die physiokratischen Ideen zur Ertragssteigerung in
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