Page 27 - weihnachtskurier_2023
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Ludwig von Meiss, ein Kommilitone aus dem Kreis der «Bodmer-Jünglinge», anerbot, ihn nach Locarno zu be- gleiten. Der gleichaltrige Freund aus altem Zürcher Patri- ziergeschlecht sollte im dortigen Schloss ab September 1770 während zweier Jahre als eidgenössischer Vogt am- tieren, Schinz ihn als informeller Mitarbeiter unterstüt- zen.36
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mit Junker Meiss ausgerechnet einer der politisch-patriotischen Akti- visten nun hoheitlicher Stellvertreter im Locarnese wer- den sollte.37 Mit welchen Reformideen im Gepäck die bei- den ins Tessin reisten, ist nicht bekannt. Kaum angekommen, machte sich Schinz daran, seine neue Um- gebung zu erkunden, statistisches Material zusammenzu- tragen, Urkunden abzuschreiben und sich die Sitten und Gebräuche der Einheimischen zu notieren.
Das Ziel, eine detailgenaue Landesbeschreibung zu verfassen,38 war ebenso aufklärerisch wie physiokratisch motiviert, schliesslich waren verlässliches Datenmaterial und Kenntnis der örtlichen Verhältnisse unentbehrliche Voraussetzungen für eine gute Regierungsführung. Schinz’ Tage waren also reich befrachtet: Er musste Italie- nisch lernen, Reisen in die benachbarten Täler unterneh- men, wo er jeweils die katholischen Geistlichen vor Ort dazu animierte, aus den Tauf- und Sterberegistern die Be- völkerungszahlen zu extrahieren; er hatte am gesellschaft- lichen Leben in Locarno zu partizipieren und der mit Schwager Hess in Zürich eingegangenen Verpflichtung nachzukommen, ihm alle vierzehn Tage schriftlich Be- richt zu erstatten.39
Wie schon in Embrach fiel es Schinz auch im Tessin leicht, mit den unterschiedlichsten Leuten in Kontakt zu treten. Bemerkenswert für einen Angehörigen der Zürcher Staatskirche Zwinglianischer Observanz sind vor allem Aufgeschlossenheit und Leichtigkeit, mit der er Zugang
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