Page 46 - weihnachtskurier_2023
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«Zu der alten Frau Gerichtsherrin zum Nachtessen, die mir mit weinenden Augen die schlechte häusliche und moralische Lage ihres Bruders, Pfarrer zu Weiss­ lingen, eröffnete und ihre Verlegenheit klagte wegen einem von Assessor Irminger ihr kund getanen Be­ richt, dass dieser Pfarrer wegen Ärgernis einer ihn an­ klagenden Weibsperson nicht mehr in der Gemeinde bleiben sollte. Ich versprach, mit Irminger hierüber zu reden. Nach 8 Uhr heim auf meine Stube, las noch in der Bibel. Übernachtete in Uitikon.»96
In den folgenden Wochen kontaktierte Pfarrer Schinz verschiedene Amtsbrüder, um eine geeignete Unterbrin- gung für Pfarrer Keller zu finden, zumal sich dieser mit Selbstmordgedanken trug.97 Wiederholt reiste die Ge- richtsherrenwitwe nach Zürich, um Pfarrer Schinz zu- hause aufzusuchen und sich mit ihm zu beraten. Pfarrer Keller resignierte schliesslich und verstarb 1793 in Zü- rich.98
«Ging zur alten Frau Gerichtsherrin, erzählte die Pferdeaufkündigung»99 – Witwe Steiner hatte anderer- seits auch ein Ohr für Pfarrer Schinz und seinen Verdruss, nachdem ihm gleichentags der Untervogt Jakob Müller den Gebrauch seiner Pferde aufgekündigt hatte. Obwohl gewohnheitsmässig zu Fuss unterwegs, lieh sich Schinz wohl hin und wieder für die Hausbesuche bis nach Ring- likon hinauf ein Pferd aus.100
Verweist die Verweigerung des Untervogts auf das hohe Konfliktpotential, das laut Historiker Gugerli üblicher- weise mit der Sonderstellung des Landpfarrers als Aussen- seiter im soziokulturellen Dorfgefüge einherging?101
«Ging zur alten Frau Gerichtsherrin (...). Auch Herr Gerichtsherr kam dorthin, sprach mit mir über aller­ lei Angelegenheiten, begleitete mich bei Mondschein bis ins Dorf.»102
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